
Gemeinsam mit Bailey (gespielt von Nykiya Adams)befinden wir uns auf einer Brücke. Es herrscht eine ruhige Atmosphäre. Im Hintergrund hören wir einen vorbeiratternden Zug, während Bailey mit ihrem Telefon die vorbeifliegenden Vögel filmt. Ein paar Jugendliche gehen vorbei, während sie über Tanzschritte sprechen. Eine Möwe landet auf der Brücke. Die Welt scheint in Ordnung zu sein. Beinahe schon etwas mystisch. Dann betritt Bug Baileys Vater (Barry Keoghan) die Bühne. Und mit seinem Erscheinen verändert sich ebenso abrupt die Stimmung. Er ist laut, hektisch, erzählt irgendetwas von einer Kröte und ganz viel Geld und überrumpelt Bailey ebenso wie uns als Zuschauer*innen. Zu Hause angekommen erhalten wir einen tieferen Einblick in das Zuhause von Bailey und der Beziehung zu ihrem Vater. Dieser eröffnet Bailey, dass er kommenden Samstag seine neue Freundin (Frankie Box) heiraten will. Bailey ist davon ebenso wenig angetan wie von dem Kleid, welches Kayleigh für sie gemacht hat und das sie am Samstag tragen soll. Auf Baileys Weigerung beginnt Bug damit zu versuchen, ihr das Kleid gegen ihren Willen anzuziehen. Die bereits eskalierende Situation droht endgültig zu eskalieren. Schnitt. Während atmosphärischer Musik sehen wir mithilfe eines kleinen Beamers an die Wand projiziert, die Filmaufnahmen, welche Bailey auf der Brücke gemacht hat. Schnitt. Wir befinden uns in einem Kinderzimmer, im Hintergrund läuft UK-Drill-Rap und Moon schneidet ihrem Freund Hunter, Baileys Halbbruder, die Haare, während dieser von irgendeinem Ding, welches er mit seinen Freunden drehen will, erzählt.
Es wäre nicht zielführend, nun den gesamten Film derartig detailliert zu erzählen. Ich empfand es aber als Notwendigkeit, zumindest einen Ausschnitt des Films zu beschreiben. Andrea Arnold, die Regisseurin, erzählte in einem Interview, dass ihre Filme immer mit einer Art Schlüsselbild beginnen. Sie beginne nicht am Anfang des Films, sondern in der Mitte und arbeite sich dann von dort nach aussen vor, wobei dann andere Bilder auftauchen, welche sie dann, wie bei einem Puzzle Stück für Stück zusammensetzt. Darin liegt für mich die ganz grosse Stärke dieses Films. Nichts daran wirkt konstruiert. Es fühlt sich in keiner Sekunde danach an, als hätte sich jemand mit einem Plan hingesetzt und das Drehbuch geschrieben. Die Geschichte fühlt sich unglaublich organisch an. Organisch im Sinn, dass sie von selber gewachsen ist. Organisch im Sinn, dass jemand eine ganz grobe, rohe Idee im Kopf gehabt hat, diese dann wie einen Samen oder Setzling behutsam eingepflanzt hat, sich tagtäglich darum gekümmert hat und daraus dann etwas grössereres gewachsen ist. Organisch im Sinn, dass wir uns ohne jegliche Mühe von der ersten Sekunde an perfekt in Bailey hineinversetzen können. Wir mit ihr mitfühlen können. Wir die Welt aus ihrer Perspektive sehen können.
Eine harte Perspektive. Bailey ist 12 Jahre alt und somit in der Pubertät. Einer ohnehin schon emotional anstrengenden Phase, in welcher wir oft noch nicht genau wissen, wer wir sind, was unsere Werte und Moralvorstellungen sind und wo unser Platz in der Welt genau ist. Bailey lebt gemeinsam mit ihrem Vater und ihrem Halbbruder in einem Plattenbau in North Kent. Ein Gebäude vermutlich so stadtbekannt wie ihr Vater, der oft und gerne oben ohne mit seinem Elektro Scooter und laut Musik hörend durch die Stadt brettert. Er ist nicht präsent in seiner Rolle als Vater, nimmt sich keine Zeit für Bailey, hört nicht zu und ist stark auf sich selber fokussiert. Hunter, zu welchem Bailey gewissermassen aufzuschauen scheint, hingegen scheint Teil einer Art Gang zu sein, welche auf Auftrag Menschen besuchen, die andere Menschen schlecht behandeln, um diesen “eine Lektion zu erteilen”. So wie auch an diesem Abend. Bailey begleitet die Gruppe von Jungs, obwohl diese ihr klar gesagt haben, dass sie sie nicht dabeihaben wollen, da sie noch ein Kind sei. Auf der Flucht vor dem Gesetz findet Bailey sich auf einer Wiese wieder, wo sie übernachtet und am nächsten Morgen auf Bird (Franz Rogowski) trifft. Dieser ist ganz anders als alles, was Bailey bisher kennt, weshalb sie ihm mit viel Missachtung begegnet und doch enorm fasziniert von ihm ist.
Wie es der Zufall will oder besser gesagt, weil Bailey ihm nachstellt, begegnen sich die beiden wieder. Beginnen Zeit miteinander zu verbringen. Bird scheint in den Augen von Bailey eine Art Held zu sein. Ein Held, welcher sie aus ihrem Elend befreien kann. Sie besuchen gemeinsam die Mutter sowie die beiden kleineren Geschwister von Bailey, welche gemeinsam mit ihrem neuen Freund zusammenleben. Dieser neue Freund stellt sich schnell als gewalttätige Person heraus. Als die Situation erneut zu eskalieren droht und Bailey sich ganz darauf zu verlassen scheint, dass Bird sie retten wird, verschwindet dieser stattdessen einfach und Bailey entschliesst sich dazu, dieses Problem selbst in die Hand zu nehmen.
Die Art und Weise, wie die Beziehung zwischen Bug und Bailey gezeichnet wird, finde ich wahnsinnig spannend. Bug, der gemäss eigener Aussage extrem jung gewesen ist, als er Vater geworden ist, ist wie bereits erwähnt kein sonderlich präsenter oder liebevoller Vater. Seine Drogenkröte, von welcher er sich das ganz grosse Geschäft erhofft, scheint ihm teilweise mehr am Herzen zu liegen, als das Wohlergehen seiner Tochter. In seiner Welt dreht sich alles um die anstehende Hochzeit und das diese perfekt zu sein hat. Die Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse von Bailey haben dabei keinen Platz. Schon gar nicht, wenn diese mit seinen exakten Vorstellungen der Hochzeit kollidieren. Aber auch Bailey nimmt absolut keine Rücksicht auf ihren Vater und dessen Gefühlswelt. Dabei wird Bug als sehr feinfühliger Mensch inszeniert, welcher für die Hochzeit heimlich zu singen und tanzen übt und sichtlich verletzt ist, als Bailey ihm eröffnet, dass ihr seine Träume egal seien. Und doch fiel es mir schwer, Mitleid mit Bug zu haben, denn es ist nicht die Verantwortung des Kindes, für den Vater da zu sein, auch wenn dieser viel zu jung Vater wurde und selber noch mehr Kind als Mann ist. Und doch hatte ich Mitleid mit Bug. Weil sichtbar ist, dass er gerne ein guter Vater sein möchte, es aber einfach nicht hinkriegt. Für seine Tochter präsent sein möchte, es aber noch nicht einmal für sich selber wirklich sein kann.
“Für jedes Mädchen, das es leid ist, sich schwach zu geben, wenn es eigentlich stark ist, gibt einen Jungen, der es leid ist, sich stark zu geben, wenn er sich verletzlich fühlt.”