
Der Film ist, als er in die Kinos kam, komplett an mir vorbeigegangen. Es muss jedoch gesagt werden, dass der Film auch nicht wirklich in der breiten Öffentlichkeit stattgefunden hat. Einzig und allein ein Programmkino gab uns hier in Bern die Möglichkeit, ihn überhaupt im Kino zu sehen. Obwohl ich den Film zu meinen absoluten Lieblingsfilmen zählen würde, tat ich mich während der ersten Sichtung irgendwie enorm schwer damit. Als dann jedoch der Abspann lief, wusste ich ganz instinktiv, dass ich gerade eine wahre Perle der Filmkunst gesehen hatte. Ich konnte nicht greifen, warum. Es war einfach so ein stimmiges Gefühl. Mittlerweile weiss ich, dass ich damals zu sehr versuchte, den Film auf einer rationalen Ebene zu verstehen – und daran kann man nur kläglich scheitern.
Der Film verweigert einem jeglichen Versuch einer rationalen Einordnung. Vielmehr handelt es sich um eine emotionale, beinahe schon spirituelle oder zumindest mystische Reise, auf die man sich einlassen und von der man sich einfach treiben lassen muss. Es hilft ungemein, wenn man gar nicht erst versucht zu verstehen, was genau passiert. Ebenso wie der Film sich keine Sekunde damit aufhält, in welchem Jahrzehnt die Geschichte stattfindet, sollten auch wir es unterlassen, Versuche der Einordnung in Fakten und Tatsachen zu unternehmen. Stattdessen sollten wir uns einfach mit dem Flow dieser wunderschön inszenierten und erzählten Geschichte mitziehen lassen. Die Geschichte entwickelt eine unglaubliche Sogwirkung, die einen – wenn man sich richtig darauf einlässt – auf eine unterhaltsame, spannende, aber auch traurige und vor allem mitreissende Reise mitnimmt.
Der Film deutet an, dass Arthur eine Gabe zu besitzen scheint, die es ihm ermöglicht, unter der Erde verborgene Grabkammern aufzuspüren. Dabei verwendet er eine sogenannte ‘Wünschelrute‘. Eine zumeist Y-förmige Astgabel, welche in der Hand eines Rutengängers auf Anziehungskräfte von verborgenen Gegenständen im Erdreich reagiert. Die genauen historischen Hintergründe sind unbekannt, jedoch weist der Stab des Hermes, mit welchem sich die Pforten zur Unterwelt öffnen lassen, Ähnlichkeiten zur Wünschelrute auf. Der Film lässt aber gekonnt und vermutlich auch bewusst eine Leerstelle, wenn es darum geht, ob Arthur nun eine Art übernatürliche Fähigkeit besitzt oder nicht. Was wir jedoch mit Sicherheit sagen können, ist, dass Arthur eine gewisse Verbindung zur Vergangenheit und allem, was aus dieser Zeit stammt, hat. So bricht er etwa mehrmals beinahe zusammen, sobald er eine Grabkammer unter sich spürt. Auch die Kamera verstärkt dieses Gefühl, indem sie sich dazu entscheidet, das Bild und somit die Welt in diesen entscheidenden Momenten im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf zu stellen.
Orpheus war gemäss der Sage ein Sänger und Dichter der griechischen Mythologie, der in den Untergrund hinabstieg, um Hades mit seinem Gesang und Spiel dazu zu bewegen, ihm seine Frau Eurydike zurückzugeben. Diese war zuvor durch einen Schlangenbiss gestorben. Hades gewährte ihm diesen Wunsch unter der Bedingung, dass Orpheus beim Aufstieg vorangehen und sich nicht nach seiner Frau umschauen dürfe. Orpheus tat jedoch genau dies, und so verschwand Eurydike für alle Zeit in der Unterwelt. Nun können wir uns die Frage stellen, wem wir mehr Wert und Bedeutung zuschreiben: die schöne und unvergängliche, aber zugleich unerreichbare Erinnerung an das Vergangene oder das voller Möglichkeiten und Chancen steckende und zugleich beängstigende Unbekannte. Zukunft oder Vergangenheit. Tag oder Nacht. Glück oder Schmerz. Verlust oder Gewinn. Loslassen oder Festklammern. Arthur entscheidet sich, ebenso wie es Orpheus getan hat, für das Bekannte. Das Vergangene. Die Erinnerung – so schmerzhaft sie auch sein mag. Er lebt noch in der schwelgerischen Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit mit seiner verstorbenen Frau Beniamina und ist dabei nicht in der Lage, seinen Verlust zu akzeptieren und ist daher nicht in der Lage, sich auf eine neue, fruchtbare und vielversprechende Verbindung mit Italia einzulassen, um sich selbst eine Zukunft zu schenken.
Wie bereits eingangs erwähnt, verweigert der Film eine rationale Einordnung. Spielt die Geschichte in der Realität? Falls ja, in welchem Jahrzehnt? Deutet das Ende Arthurs Tod an oder eher, dass er endlich loslassen kann und seinen Blick endlich in Richtung Zukunft richtet? Vermutlich sind all diese Fragestellungen nicht relevant. La Chimera ist viel tiefgründiger und philosophischer, als dass er sich mit der Beantwortung solch banaler und für die Geschichte irrelevanter Fragen aufhalten würde. Der Film erinnert mich in seiner Struktur stark an alte Theaterstücke aus dem antiken Griechenland. Auch in diesen Werken, genauso wie in La Chimera, gibt es immer wieder musikalische Intermezzi, in denen die Handlung besungen, zusammengefasst und für uns als Zuschauende gewissermassen ein wenig eingeordnet wird. Der Film lässt einen stellenweise sehr alleine und verloren zurück. Man fragt sich oft: Was passiert hier gerade? Warum passiert das gerade? Wer sind diese Leute? Warum spricht mich der Film jetzt gerade direkt an? Aber genau dieses Gefühl des Verlorenseins wurde bei mir von einem noch stärkeren Gefühl von Verliebtheit abgelöst. Es bot mir die Möglichkeit, mich ungemein stark mit Arthur identifizieren und mit ihm mitfühlen zu können. Denn Arthurs Leben fühlt sich vermutlich genauso alleine und verloren an, wie ich mich fühlte, als ich diesen Film zum ersten Mal schauen durfte.